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Warum Gym-Bros Mark Aurel feiern

Keine philosophische Strömung war in den vergangenen Jahren so erfolgreich auf Social Media wie der Stoizismus. Zahllose Selbsthilfebücher, Online-Kurse und Coachings preisen die Lehren des ‚Stoicism‘ als beste Art zu leben an und finden damit vor allem bei jungen Männern Anklang. Content Creator produzieren ohne Ende Podcasts, Reels, Shorts und TikToks, YouTube-Videos, Blogs, und Vlogs zur stoischen Lehre. Bei genauerem Hinsehen scheint dieser Content aber gar nicht mal so viel mit der antiken Denkschule des Stoizismus zu tun haben. Doch beginnen wir am Anfang:

Was ist Stoizismus und warum ist er heute so beliebt wie nie?

Ursprünglich geht der Stoizismus auf den phönizischen Philosophen Zenon von Kition zurück, wird heute jedoch vor allem mit seinem bekanntesten Vertreter, dem römischen Kaiser Mark Aurel, in Verbindung gebracht. Kern der stoischen Lebensphilosophie bildet eine innere Grundhaltung zum Leben, die die Vernunft als menschliche Tugend wertschätzt. Nicht die Dinge, die uns zustoßen, bestimmen unser Leben, sondern wie wir darauf reagieren. Der Stoiker lässt sich nicht von starken Emotionen und Trieben regieren, sondern reflektiert diese mithilfe von Vernunft und kultiviert stattdessen Werte wie Gelassenheit, Einsicht, Mäßigung und Tugend. Vor allem dem Ethos der emotionalen Selbstbeherrschung ist es aber zu verdanken, dass der Stoizismus gerade Renaissance feiert: die Manosphere hat ihn nämlich für sich entdeckt und ihn in etwas Eigenes verwandelt.

Wer von der Manosphere noch nichts gehört hat, sei an dieser Stelle kurz abgeholt: Es handelt sich hier um den Oberbegriff für ein loses Online-Netzwerk antifeministischer Ausrichtung, in der sich rechte Konservative genauso zuhause fühlen wie White Supremacists, Pick-up-Artists und Incels. Es gibt definitiv ideologische Überschneidungen mit der Tradwife-Community, doch sind diese beiden reaktionären Gruppierungen sich nicht so nah, wie man auf dem ersten Blick glauben mag. So spielt der romantisierte Lifestyle-Aspekt eines häuslichen, natürlichen Lebens für das vorrangig weibliche Tradwife-Publikum eine dominante Rolle, während es in der Manosphere eher um traditionelle Männlichkeitskonzeptionen und damit vor allem ums persönliche Selbstbild geht.  Die Manosphere rekrutiert dabei aus einem Pool von Männern und Jungen, die mangels positiver männlicher Vorbilder auf der Suche sind nach neuen, oder besser gesagt, alten Männlichkeitsidealen.

In dieser Community fallen Ansätze wie der der Selbstdisziplin zugunsten der Logik auf fruchtbaren Boden, passen sie doch in ein Glaubenssystem, das Emotionen als Schwäche und die Logik als Kernstück des männlichen Ideals interpretiert. Nicht umsonst bezeichnet sich der Autor des Buches ‘The rational male’ auch als Pate der Manosphere.

Und so kam, was kommen musste.

 

Ausgerechnet Andrew Tate hat den Stoizismus für sich entdeckt und dreht ihn auf links: Emotionen seien lediglich Feedback und es käme darauf an, wie man dieses Feedback verarbeite. Die Computermetapher ist kein Zufall: der naturalistische Pantheismus des antiken Stoizismus, nach dem alle Dinge vom göttlichen Prinzip durchwirkt seien, wird im modernen ‘Broicism’ der Alpha Male – Influencer zu einem Verständnis der Welt als Maschine oder System, das es zu hacken gilt. Der Prototyp des Individualisten, der sich mit ‘Life Hacks’ und ‘Cheat Codes’ seinen eigenen Weg durchs System bahnt, verbindet sich mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr zu alten Werten.

Und plötzlich scheint es gar nicht mehr so rätselhaft, warum vor einigen Monaten Männer aus aller Welt zugaben, mehrmals die Woche ans römische Reich zu denken. Filme wie 300 und Gladiator haben nicht wenig zum Image der Antike als Schmiede wahrer Manneskraft beigetragen und werden von Alt-Right-Activists und Anhängern des Red-Pill-Movements gleichermaßen idealisiert.

Der Ansatz, sich nicht von starken Trieben regieren zu lassen, sondern diese zuerst zu reflektieren und Entscheidungen mit Bedacht zu treffen, wird von Fans der Manosphere als Abwesenheit von Mitgefühl oder jeder Form von Verletzlichkeit und Fürsorge interpretiert. Insbesondere in der Red-Pill-Ideologie wird dieses Weltbild vertreten: Frauen sind hier lediglich Ware, die ungerecht unter den Männern verteilt sei, und um besseren Zugang zu Frauen zu bekommen, müsse man(n) männlicher werden.

Dass sich dies für viele junge Männer in direkter Weise in den täglichen Gang ins Fitness-Studio übersetzt, hat noch einmal eine eigene Subkultur geschaffen: die der Gym-Bros, in deren Social Media Content zahlreiche stoizistische Zitate kursieren. YouTube ist mit AI-generiertem Content für Motivation und Inspiration dank stoizistischer Zitate nahezu überflutet. Darstellungen antiker Philosophen erinnern hier eher an Bodybuilder, die in den Krieg ziehen als an in sich gekehrte Denker.

Wer sich für antike Philosophie des Stoizismus interessiert, findet die Werke seiner Verfasser jedenfalls kostenfrei in zahllosen Sprachen im Netz und muss kein Geld für ein 10-Tage-Stoizismus-Coaching ausgeben.

Wie dieser aktuell von der Manosphere instrumentalisiert wird, hat damit freilich wenig zu tun. Natürlich ist es jedem Menschen selbst überlassen, womit man sich zum Sport machen oder für gesündere Lebensgewohnheiten inspirieren lassen möchte. Doch schadet es nie, mal etwas genauer hinzuschauen, woher die Lebensweisheiten seines liebsten TikTok-Sportlers eigentlich kommen, damit man(n) sich nicht plötzlich in einem misogynen Rabbithole verliert.

Fake-Hypes dank Fomo: TikTok und seine künstlichen Trends

Die deutsche YouTuberin Sashka hat kürzlich ein Video mit einem scheinbar harmlosen Thema veröffentlicht: Warum lieben plötzlich alle die Dubai-Schokolade?, will sie wissen.

Die mit Pistaziencreme und Tahin gefüllte Süßigkeit hat in den vergangenen Monaten die sozialen Netzwerke im Sturm erobert und zu Engpässen bei den Grundzutaten geführt. Das für viel Geld angebotene Täfelchen wird von unterschiedlichen Verkäufern für einen stolzen Preis angeboten, so zahlt man hier beispielsweise knapp 15€ für nur 190g – und kann sie aufgrund der immensen Nachfrage nur Monate im Voraus bestellen.

Der Hype um die besondere Schokolade ist aber nur ein Beispiel für die These, die Sashka in ihrem Video aufstellt: Viele Social Media Trends, besonders die auf TikTok, würden von Brands bewusst produziert und seien damit künstlich und nicht organisch entstanden. Dies sagt auch ein bekannter deutscher Skincare-Influencer im Gespräch mit einer Marke, mit der er kooperiert.

So würden Firmen Influencer-Kampagnen und Inhalte so aufbauen, dass diese zeitlich aufeinander abgestimmt seien und auf diese Weise eine Art künstliche Viralität erzeugen. Bei den Usern der App löst die wiederholte Exposition der gleichen Werbe-Botschaften dann FOMO aus: the fear of missing out, zu dt.: die Angst, etwas zu verpassen.

Ob es sich um den Stanley Cup handelt, eine Overnight-Pflegemaske für die Lippen oder einen Fahrrad-Schreibtisch: viele Produkte werden von Herstellern und Verkäufern auf Social Media in die Viralität gepusht.

Und was soll daran jetzt so schlimm sein? Werbung ist doch erlaubt.

Das ist richtig, Werbung ist erlaubt. Doch der Viralität von Internetphänomenen haftete bis dato immer etwas Ungreifbares an: Trends und Hypes kann man nur bedingt vorhersagen, und so glaubte man auch lange, diese seien nicht künstlich zu fabrizieren. Vielmehr komme es darauf an, Trends als Marketer schnell zu erkennen und dann aufzuspringen, um sie fürs eigene Branding zu nutzen.

Die Möglichkeiten, Trends und Hypes für die eigene Brand zu nutzen, hat sich durch den TikTok-Algorithmus und den unglaublichen Einfluss, den die App insbesondere auf junge Menschen hat, immens erweitert. Durch die Analyse immenser Datenmengen unter Einsatz von KI kann man heute Prognosen ganz neuer Qualität treffen – doch sollte man die Korrelation zwischen Daten nicht mit ihrer Kausalität verwechseln, warnen Experten, sonst verlieren wir jedes Verständnis für die übergeordneten Zusammenhänge hinter den Inhalten.

Trend Prediction ist also schön und gut – das Internet muss jedoch, zumindest in Teilen, ein Ort bleiben, der nicht vollständig von Marken und Advertisern gestaltet wird und an dem sich organische, d.h. mehr oder weniger ‘natürlich’ gewachsene Internetphänomene herausbilden können, die nicht nur von Stakeholdern mit Profitinteresse gesteuert werden. Ein Raum, in dem sich die Milliarden täglichen User einen Rest an Unvorhersagbarkeit bewahren können, die nur ihnen gehört. Und das heißt auch, dass organische virale Phänomene, die auf menschlichem Interesse basieren, nicht allesamt von künstlich erzeugten Trends verdrängt werden.

Viktoria Steiber

Writer & Inhouse Creator

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