In den 2020ern war bisher niemand traurig, wenn ein Jahr zu Ende ging. Für den dennoch obligatorischen Blick in den Rückspiegel darf es zum Start ins neue Jahr dementsprechend vielleicht ein bisschen weiter zurückgehen, oder? Aber eine Sache vorweg: Es geht hier um eine gefühlte Wahrheit. Im Gegensatz zur thematisch verwandten Datenanalyse hier, habe ich nur anekdotische Evidenz zu bieten. Nichts datengetriebenes, bloß persönliches Storytelling. Zum Thema Shortform-Content vs. Longform-Content. (Verzeihung auch für die hilflose Überschrift, aber sie hat funktioniert, oder?)
YouTube sollte immer ein schönes Hobby bleiben?
Es gibt ja Leute, die sagen, man solle sein Steckenpferd nicht zum Beruf machen. Musik zum Beispiel. Aber wie sieht es mit Social Media oder Videocontent aus? Wobei… Hobby? Wer würde in ein Diddl-Poesiealbum in dem Feld schon “YouTube” eintragen? Oder in einem Dating-Profil. Jedenfalls habe ich auf verschlungenen Holz-, Irr- und sonstigen Wegen YouTube zum Beruf gemacht und das hatte einen eigentümlichen Effekt:
Die Videoplattform öffne ich meist nur noch in (seltenen) Momenten der Langeweile. In der App, auf dem Handy. Ich scrolle über die Startseite und bleibe – auf dem endlosen Weg nach unten – mal hier und dort bei einem Autoplay hängen. Automatisch generierte Untertitel, kein Ton. Ab und zu teile ich mir selbst einen Link per Mail. “Für später”. Dann folgt schon der unterbewusst automatisierte Wechsel zu Insta und Co und schnell hab ich eh keine Zeit mehr. Das Leben ist immer lauter als ein Handy und es lässt sich schwerer muten. Wenn ich aber mal ganz bewusst YouTube öffne, um dort wirklich Zeit zu verbringen, gucke ich nur noch selten Videos aus der “für später” Liste oder etwas Neues. Sondern: immer wieder Videos, die ich schon kenne und extra in Playlists gespeichert habe. Und die sind oft stundenlang.
Früher war alles… kürzer & komfortabler?
Das war nicht immer so. Ich bin quasi mit YouTube aufgewachsen. Damals, als es Longform-Content – wie wir ihn heute kennen – noch gar nicht gab. 10 Minuten Videolänge? Das technisch erlaubte Maximum. Nicht alle Videos waren neu, aber die Plattform an sich. Wir haben die Lord of the Weeds oder Harry Potter und ein Steins dieser Welt vorher noch von Hand bei rapidshare gepflückt. Ich möchte hier aber ganz bewusst nicht auf Nostalgie oder gar eine Generationen-Debatte hinaus. Stattdessen beobachte ich bei mir ein Phänomen, das diskursiv ansonsten eher etwas mit Netflix und Konsorten zu tun hat, als mit YouTube: dem Comfort Binge.
Für alle Uneingeweihten eine kürzeste Definition: Comfort Binge meint das wiederholte Anschauen von bereits gesehenen Serien, Filmen, o.ä. um sich Wohlzufühlen. Neuerdings scheint diese Art des Medienkonsums von Streamingdiensten nicht nur als Contentstrategie antizipiert, sondern gar transzendiert zu werden. In einem Essay im New Yorker ist gar die Rede von Ambient TV: Emily in Paris sei etwa dafür gemacht, dass man es verstehen kann, ohne aufzupassen. Hintergrundrauschen, das gleichzeitig neu und altbekannt ist. Für meine YouTube-Dauerschleife ist “Komfort” demgegenüber dann vielleicht nur bedingt das richtige Wort, denn es geht mir nicht (nur) um Berieselung, sondern um das wiederholte Goutieren von gehaltvollem Text.
Der Mensch lebt nicht vom Content allein
Mein Lieblingsvideo bei YouTube ist 75 Minuten lang. Das Footage hat zwar etwas mit dem darin besprochenen Videospiel zu tun, aber nur bedingt mit dem Gesagten. Es hat kein aufwändig gestaltetes Thumbnail (genau genommen haben die Videos auf dem Kanal von Essayist Noah Caldwell-Gervais überhaupt keine Thumbnails). Es hat trotzdem etwa 175.000 Aufrufe. Und ich habe es häufiger gesehen, als jedes andere Video. Ganz und in Teilen. Sogar häufiger als mein Lieblings-Vine (RIP nochmal an der Stelle). Ganz ehrlich: Ich hab dabei mehrfach heftiger geheult als bei meiner letzten Trennung. I mean:
We never do all the things we need to. We never make it to all the places we want to go. Too soon the storm comes down and drowns those few things that were still wild and blameless, leaving us to weakly apologize in the lengthening shadows of the day.
Wegen solcher Sätze höre ich Noah gerne zu. Ich würde gern so gute Texte schreiben wie er. Seine Essays sind inhaltlich so dicht, dass einmal schauen/hören ohnehin nicht ausreicht. Beschallung, aber mit Anspruch. Und: auf Strecke. Ohne, dass man alle 6 Minuten ein neues Video auswählen müsste oder sich in einem immer egaler werdenden Strudel aus Autoplay-Shorts verliert. Gerade kein Fast Food Content, sondern eher eine Art Michelin-würdiger Appetithappen. Einer, der gar nicht satt machen muss, sondern Lust auf mehr. Vielleicht sogar eher Lust aufs Selber-Kochen, als aufs Essen.
In jedem Fall ist so ein Video, das ich wiederholt für ein gutes Gefühl und etwas geistige Stimulation laufen lasse, etwas anders, als die dezidierten (Musik-)Ambient Sachen auf YouTube: Der Klassiker: lo-fi hip hop beats to study and relax to, Merkelwave (mein ständiger 2020-Begleiter), you name it. Es geht auch in eine andere Richtung als ein (fantastischer) Kanal wie Other Places. Oder die Kaminfeuerloops, die mittlerweile wiederum auch Netflix für sich entdeckt. Teils sogar gebrandet auf einzelne Serien wie Bridgerton oder Squid Game. Easy Watchtime für beide Seiten. Keine große Konzentration erforderlich. Audiovisuelle Möblierung.
Was mich zu der Frage bringt: Wieso gibt es davon so viel? Vielleicht ist Longform-(Wohlfühl)Content, etwas, mit dem wir uns noch intensiver beschäftigen sollten. Geht der Trend wieder weg von den ultrakurzen Sachen? Ist YouTube (noch) eine Videoplattform, oder machen wir uns zu viele Gedanken um Optik, während Quasi-Podcasts hochladen sinnvoller wäre? Klar, mit ein bisschen Beiwerk. Ohne visuelle Reize macht es ja selbst Spotify nicht mehr.
Heute ist alles… länger?
Stundenlange In-Depth-Essays sind bei YouTube jedenfalls keine Seltenheit mehr. Oder Videos, bei denen das Main Theme von Jurassic Park in 1000-facher Verlangsamung ein erhabenes und erhebendes Meisterwerk aus einem eh schon mindestens-Top-5-John-Williams Score macht. Auch die Shorts sollen in Zukunft ja länger werden. Aber ist das ein eindeutiger Trend oder passiert einfach mal wieder alles gleichzeitig und nichts hat mit nichts etwas zu tun?
In den letzten Jahren komme zumindest ich zur YouTube-Startseite (und manchmal auch zu den Shorts), um ein paar Minuten totzuschlagen und wenn es gut läuft, um zum Lachen gebracht zu werden. Vielleicht auch nur, um nicht im Stillen zu essen. Aber ich komme immer wieder zu den YouTube Longform-Videos, um etwas zu lernen. Vor allem aber komme ich immer wieder zu denselben Videos, um etwas und mich wohl zu fühlen. Je länger, desto besser.
— Jonathan Klamer